Am 2. April 2017 veröffentlichte die Gewinnerin des Goldenen Löwen, Anne Imhof, auf ihrem Instagram-Account ein Foto von sich in Venedig: Sie sitzt breitbeinig und mit gekreuzten Armen am hinteren Ende einer U-förmigen Ledersitzecke im Unterdeck eines Bootes, ist komplett schwarz gekleidet, eine Longchamp Handtasche steht zu ihren Füßen und eine dunkle Schildmütze mit weißem Schriftzug verdeckt ihr halbes Gesicht. Von der schwarzglänzenden Decke wird sie gespiegelt und die Plastikaufkleber auf den Fensterscheiben verraten: „Turismo“. Mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des Bildes, dem Wissen um die Biennale von Venedig und dass diese Frau Künstlerin ist, lässt sich ihr Shot sofort als überdeutlicher Wink mit dem Zaunpfahl verstehen. Der Titel ihrer Selbstdarstellung #venice #transport @juicyfilet verschleiert dabei den Umstand, dass sie gerade mitten im Ausstellungsaufbau ihrer Einzelausstellung im Deutschen Pavillon steckt und als Favorit für den Goldenen Löwen gehandelt wird.

Knapp fünfzig Jahre vorher entsteht die fotografische Arbeit Venetian Blind, im Jahr 1970. Auf 24 Polaroidfotos ist der kanadische Konzeptkünstler Michael Snow zu sehen, wie er sich jeweils frontal selbst fotografiert, dabei seine Augen schliesst und stark den Kopf schüttelt. Durch die Bewegung des Kopfes erscheint er selbst unscharf im Bild. Der Bildhintergrund ist gut zu erkennen: venezianische Monumentalarchitektur. Trägt man die dargestellten Indizien (Künstler, Venedig) zusammen, so lassen sich die Fotografien ebenso im Geschehen um die Venedig Biennale verorten. Und auch sie sollen eine Erfolgsgeschichte verkünden, denn die Fotos entstanden am Vormittag nachdem der Künstler seine Einzelausstellung im Kanadischen Pavillon eröffnete – dem bisherigen Höhepunkt seiner Karriere.

Rein formal stellen die rasterförmig angeordneten Fotografien (bis auf die geschlossenen Augen und die Unschärfe des Gesichts) aus heutiger Sicht ein Selfie-Panorama par excellance dar. Sie wirken vertraut und aktuell, obgleich sie bereits ein halbes Jahrhundert alt sind. Snow selbst erklärte mehrfach, dass es sich bei den Fotografien nicht um Selbstporträts handele. Die Kunstkritik über das Werk sieht das anders – wiederholt finden sich Selbstporträtzuschreibungen und Versuche, das Werk als autobiografisches Statement zu lesen.

Dieser Wiederspruch von Deutung und Selbstaussage lässt in Bezug auf Venetian Blind folgende Interpretationsmöglichkeiten zu: Erstens, dass Venetian Blind Teil einer bestimmten Inszenierungsstrategie ist und somit in seiner Funktionsweise an die Konzeption des klassischen Selbstporträts angliedert; Zweitens, dass es in Hinblick auf die Selbstdarstellung Imhofs in die Richtung eines künstlerischen Selfies rückt, da es hauptsächlich (Erfolg) kommunizieren soll; Oder drittens, dass sich Venetian Blind tatsächlich als konzeptuelles repräsentationskritisches Werk verstehen lässt, als das es vom Künstler beschrieben wird.

Die Magisterarbeit „Snow in Venice. Die fotografische Arbeit Venetian Blind des Künstlers Michael Snow zwischen Selbstporträt, Selfie und Konzeptkunst“ geht deshalb der Frage nach, inwiefern trotz der erklärten Abkehr von Subjektivität und Autorschaft in der Konzeptkunst, diese Kriterien dennoch wirksam sind und wie sie artikuliert werden.

Betreuung: Prof. Matthias Bruhn, Dr. Barbara Kuon